Im wahnsinnigen Takt des Alltags verschwinden sichtlich immer mehr die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen. Die Beziehung der Subjekte zu Objekten wird durch ihre eigene Objektivierung folglich auch tiefgreifend beeinflusst. Die Gegenreaktion auf dieses Verwaschen und Entschwinden dieser Grenzen kann jeden Tag in Nachrichten, in der Kneipe oder bei einem gemütlichen Spaziergang durch die Stadt beobachtet werden. Ein greifbares Resultat dieses erhöhte Tempo ist der substantiellen Verlust von Wortbedeutung und deren Aussagen. Wörtern werden schneller denn je ihrer Bedeutung beraubt und zu reinen Worthülsen degeneriert. Schatten ihrer Selbst. Bei dieser Entleerung ist besonderes Augenmaß auf den spezifischen Zeitkern des Worts, der damit verloren geht bzw. aufgeweicht wird, zu achten.
Der Zeitkern jedes x-beliebigen Kalenderspruchs, jeder bahnbrechenden Theorie oder die inbrünstige Eröffnungsrede der ersten Internationalen ist seinem historischen Zeitort und damit deren Voraussetzungen zu zuordnen. Durch die spezifischen Voraussetzungen konnte Sie nur dort entstehen und ist durch sie reglementiert. Unter diesem Gesichtspunkt kann sich Geschichte niemals wiederholen. Wird heutzutage eine vergangene Aussage/Tatbestand beschrieben, muss dabei immer seine zeitgemäße Relevanz und damit seine Aussagekraft mitgedacht werden. So ist z.B eine soziologische Theorie nicht ohne eine Menge Gedankenarbeit auf die aktuelle Zeit zu übertragen und daher rührt z.T auch die große Problematik mit einem zeitgemäßen Marxismus der Linken, falls man diesen Termini noch verwenden will. War ökologische Landwirtschaft wohl eine wirkliche Alternative in der vor-globalisierten Welt, so fristet sie heute ein gespenstisches Dasein. „Was heute richtig erscheint, kann schon morgen falsch sein“ in diesem Satz kristallisiert sich dieses Unvermögen Graustufen und die Beziehung zwischen Widersprüchen zu erkennen.
Wer behauptet, dass wäre ein modernes Problem, wir würden gerade am Anfangs des Lösungsweges stehen und deshalb Geduld bewahren sollten, fischt in trüben Gewässern. Der österreichische Autor Musil beschrieb schon um die anfangende Jahrhundertwende in seinem Roman „Mann ohne Eigenschaft“ die Stadt Wien und ihre Gesellschaft als eine durch unglaubliche Hektik des Lebens geprägten Ort, wo es für keinen Menschen ertragbar sei. Die Problematik existiert also nicht seit gestern, sondern eher seit vorgestern. Wie wir alle am eigenen Leib und Geist erfahren dürfen, nimmt diese Geschwindigkeit, die bei genauerer Betrachtung als Informationsgeschwindigkeit zu beschreiben ist, immer größere Maßstäbe und immer schneller Ausmaße an. Diese Taktung lassen die Subjekte einfacher und schneller vergessen. Neuer Input folgt auf dem Fuß oder kann mit einem Klick immer wieder abgerufen werden. Somit wird feststehender zeitlicher Sinngehalt obsolet, da seine Wechselhaftigkeit in den Vordergrund tritt. Das Schülerdogma „Man bräuchte heute ja nichts zu wissen, nur noch wo man es nachlesen kann“ verdeutlicht diesen Irrweg, welcher keinem Menschen mehr einen universalistischen Begriff von Weisheit lässt.
Das Verschwinden des Zeitkerns führt zu der äußerst bequemen Art sich ein Set aus erstarrten Gedanken und Ideen, nennen wir es verwegen Ideologie, anzueignen und alles mit diesem System, welches seine eigenen Voraussetzungen und sich selbst damit nicht hinterfragt, zu erklären. Dieses Konstrukt verkennt seinen Zeitkern und wird im eigenen Sinne überzeitlich. Hier versteinert der sonst fluide Zeitkern und endet in einem eingefrorenen Zeitabschnitt. Beispiel gibt es so zahlreiche, wie Individuen auf der Welt. Jenes spezifische Konstrukt kann dann als Ur-Muster auf alle aufkommende und auch rückwirkend auf alle vergangen Problem angewendet werden. Folgen wir diesem Gang, muss man feststellen, dass der Zeitkern ein integraler Bestandteil eines jeden Begriff ist, den nur so kann er sich selbst immer neu definieren und erweitert werden. Die Zeit ermöglicht durch Mehrstufigkeit und Linearität das Wort/Geschehnissen Graustufen zu verleihen und Widersprüche zu erkennen.
So verwischt paradoxerweise durch die stetige und eigenmächtige Neudefinierung der Begriff des Zeitkerns. Sollte durch den notwendigen Wechsel der Bedeutung die zeitliche Dimension der Wahrheit eines Begriffs/Umstand eher strahlend seinen Wert präsentieren und damit immer auf die aktuelle Weltsituation reagieren, so verliert er durch seine wiederkehrende individualisierte Redundanz seinen Inhalt. Jeder kann sich den Inhalt selbst definieren und sein individuelles Weltanschauungssüppchen kochen. Durch die ständige Anpassung der Begriffe und die selbstbestimmte Umdeutung reicht dem Zeitkern nicht zur Ehre.
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