Kampf für Lebensformen: Der Hambacher Wald.

Jessy an der Abbruchkante.
Bildrechte: Philipp Steiner. Jessy an der Abbruchkante zum Hambacher Tagebau. Kaum an der Abbruchkante angekommen, fährt hinter dem Stacheldraht ein Jeep vor und fotografiert uns durch das Fenster.

Informationen und News zur Waldbesetzung findet ihr hier.

Es ist kalt im Hambacher Wald, die Luft ist nass. Die Kälte dringt tief in die Kleidung der BewohnerInnen des Waldes. Jeder Schritt schmatzt im Schlamm auf dem Waldweg, der in das Baumhausdorf Gallien führt. In regelmäßigen Abständen stehen kreativ ausgestaltete Barrikaden, Plateaus, Gruben, Kunstwerke und Mahnmale aus Schrott. Kein Müll liegt auf dem Boden. Im Slalom geht es zwischen Barrikaden und die tiefen Löcher im Boden hindurch.

Bildrechte: Philipp Steiner. „Antispeciecist Action“: Ein von TierschutzaktivistInnen errichteter Fahnenmast steht mitten auf dem von Barrikaden und Transparenten gespickten Waldweg nach Gallien.

Von weit entfernt dringt das nie endende Rauschen der Autobahn in den Wald ein, unterbrochen von den industriellen Klängen der gigantischen Bagger, die hier in der Nähe Kilotonnen von Material abschaufeln und sich dabei tiefer und tiefer in den Boden graben. Klong, weit aus der Ferne. Klong, aus der Grube. Dazu immer wieder ein Ruf aus dem Wald. Auf französisch, deutsch, englisch. Der Pfad ist gesäumt von Transparenten, Schildern und Parolen. Es ist Nachmittag, und die Dezembersonne steht schon tief.

Hier wohnt Jessy. Jessy trägt robuste Kleidung, einen bunten Schal und eine Tarnjacke. Sie verwaltet das Pressetelefon, und kümmert sich mit einigen Anderen freiwillig um die Kommunikation mit den Medien und die Öffentlichkeitsarbeit. Ob Jessy wirklich Jessy heißt, weiß hier niemand. Es wird sie auch niemand danach fragen, ebenso wenig wie nach ihrem genauen Alter. Was auf ihrem Ausweis steht, das spielt hier im Wald keine Rolle. Name, Geburtsort, Wohnort, Muttersprache sind nicht von Belang. Hier zählt nicht, wer sie ist. Hier zählt, dass sie sich beteiligt.

Das Dorf Gallien befindet sich in einer Lichtung mitten im Wald. Jessy wohnt gemeinsam mit weiteren AktivistInnen in einem dreistöckigen Baumhaus. Der „Tower“ ist eine der größten der über dreißig Baumhauskonstruktionen im Hambacher Wald. Ein Feuer brennt im Ofen. Auf den Sofas und Matratzen tummeln sich Menschen, um sich aufzuwärmen, zu lesen, zu reden. Es ist warm und gemütlich. Die Presse ist hier gern gesehen – die gute Presse, jedenfalls. Die öffentlichen Schilderungen der hiesigen Situation haben sich schon bewährt gemacht, denn die Berichte locken SympathisantInnen an. Und auch das Zusammentreffen mit der Polizei ging manchmal friedlicher von Statten, wenn populäre Presse dabei war. Dennoch kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und Körperverletzungen durch Sicherheitspersonal des RWE und Polizeibeamte. Die AktivistInnen ermahnen sich dennoch immer wieder lautstark zur Gewaltlosigkeit und lassen den Einsatz von Pfefferspray durch die Beamten über sich ergehen.

Jessy empfängt alle freundlich. Sie spricht ein klares und politisch korrektes Deutsch, durchbrochen von Englischen Momenten. In ihren Statements ist sie sehr bestimmt, aber vorsichtig. Ihr ist es wichtig, und das betont sie mehrmals, dass ihre Aussagen nicht repräsentativ sind. Jeder im Wald ist für sich hier, und jeder handelt aus persönlichen Überzeugungen. Jessys Motivationen für ihren Aktivismus sind sowohl altruistisch, als auch egoistisch. Sie flieht vor einer Welt, die ihr nicht zusagt und will dabei helfen, schützenswerte Orte zu schützen. Wie sie spricht und mit ihrer Umwelt umgeht, strahlt sie etwas Respektables und Entspanntes aus. Ihre Lebenssituation würden einige Menschen als „prekär“ bezeichnen. Keine Wohnung, kein Job. Sie selbst aber fühlt sich hier im Wald von den Leistungs- und Konsumzwängen befreit, die ihr in ihrer Heimatstadt zusetzten. „Man denkt hier gar nicht in Geld. Das ist etwas Schönes, einfach zu schauen, was da ist und gemeinsam die Ressourcen zu nutzen, die da sind.“ Skill-Sharing, heißt die Devise. Jeder kann etwas Nützliches leisten, und man lehrt sich gegenseitig, wie man gleichwohl gemeinsam und ohne einander leben kann. Der Wald bietet auch Raum für ein soziales Experiment: Die anarchischen „Strukturen“, die die BewohnerInnen hier legen und teilen, sind auf das Nötigste reduziert. Die wenigen ausformulierten Richtlinien behandeln Techniken der Konfliktlösung und der friedlichen Konfrontation, und sie passen auf ein großes Plakat. Viele Probleme werden in direkten Gesprächen und Mediation gelöst. Die meisten Gegenstände und Nahrungsmittel werden mit einer ernsten Selbstverständlichkeit geteilt. Die Gesetze, die hier gelten, sind nicht auf Papier geschrieben. Ein intuitiver, aber strenger Kodex regelt wie ein Geist in Stille den Umgang miteinander. Seit einem dreiviertel Jahr wohnt Jessy bereits hier, um den Wald zu schützen und das freie Zusammenleben zu fördern. Sie glaubt an die friedfertigen Mittel im Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die sie in dem Tagebau des RWE sieht.

Das Waldstück am Rande von Deutschlands größter Kohlegrube wird seit über fünf Jahren von AktivistInnen besetzt, um die fortschreitende Rodung des verbliebenen Waldstückes zu stören. 34 km² der einst größten Waldfläche von Nordrhein-Westfalen mussten dem ertragreichen Kohleabbau bereits weichen. Der Plan des verantwortlichen Energiekonzerns RWE sieht vor, dass auch der verbliebene Wald noch gerodet wird, um an die darunter liegende Braunkohle zu gelangen. Das gilt es für die AktivistInnen zu verhindern – oder zumindest zu stören, wo es nur geht. Darum stehen über dreißig Plattformen und Baumhäuser in den Kronen der Bäume, und darum leben hier Menschen im Wald. Selbst im Winter.

Bildrechte: Philipp Steiner. Die Siedlung auf der Wiese vor dem Wald besteht aus Lehm-, Holz- und Blechhütten.

Die Baumhäuser sollen die Bäume vor dem Fällen schützen. „Je höher die Häuser, desto schwerer sind sie zu räumen“, erklären die AktivistInnen auf ihrer Webseite. Sie wollen so viele Bäume wie möglich vor den Rodungsarbeiten durch den Eigentümer Energiekonzern RWE schützen. Der direkte Schutz beschränke sich allerdings nur auf besetze Baumhäuser, „unbesetzte Bäume werden einfach gefällt.“ Die Baumhäuser dienen gleichermaßen als Lager-, Wohn-, und Schlafstätten, wie als Rodungsschutz. Beim Bau werden in der Regel keine Nägel verwendet, sondern „Polyprop“, Polypropylen-Seile. Viele der Baumhäuser sind mit Holzöfen, Stromkabeln, Solarpanels und Flaschenzügen ausgestattet. Die Isolierungen aus Lehm und Stroh halten viele der Häuser warm genug, um sie auch im Winter zu bewohnen. Auf den weitläufigen Wiesen vor dem Wald steht eine weitere Siedlung mit einem Gewächshaus, Lehmhütten und einem stromerzeugenden Windrad. Dazwischen stehen alte Autos und umgerüstete Wohnwagen. Hier sind wichtige organisatorische Bodenstrukturen angesiedelt worden sowie eine Gemeinschaftsküche, ein Versammlungsraum, ein Museum, eine Bibliothek und ein Badehaus. Das alles bauen und erhalten die Menschen hier selbst, mit Hilfe und Unterstützung aus ganz Europa.

Jessy liebt den Wald, und sie sieht im Erhalt der Biodiversität eine Grundvoraussetzung auch für das menschliche Leben. Sie hat Verständnis für die wirtschaftlichen Dimensionen der Problematik. Immerhin ist RWE ein börsendotiertes Unternehmen, das Gewinne einfahren und Dividenden ausschütten muss. Es muss konkurrenzfähig bleiben auf einem globalen Wachstumsmarkt. In ihren Augen lassen sich der wirtschaftliche Aufwand des Kohleabbaus und die durch den Tagebau des RWE entstehenden ökologischen und sozialen Kosten aber kaum rechtfertigen. Doch den Tagebau verhindern? „Wir hier können das auf jeden Fall nicht aufhalten, das ist auch gar nicht unser Ziel – natürlich ist es schön, wenn es aufgehalten wird, aber das wird kaum durch uns passieren, sondern durch solche Klagen wie der vom BUND. Wir sind nur dazu da, das Ganze zu stören und so teuer wie möglich zu machen.“. Der BUND hatte gegen die Verstöße gegen das Naturschutzgesetz geklagt, die der laufende Tagebau mit zu verantworten hat. Der Streit ist noch nicht beigelegt, und bis auf Weiteres ist ein Rodungsstopp verhängt worden. Jessys selbsterklärtes Ziel ist es, den Konzern die Kosten seiner Externalisierungen zu größeren Teilen selbst tragen zu lassen. Die Renaturierungsmaßnahmen des RWE hält Jessy für nicht ausreichend. „Jedes Jahr eine Reihe von einer Sorte Bäume vor die nächste zu stellen, das ist kein Wald. Einen Wald macht man nicht, indem man zwanzig Jahre lang einen Baum neben den anderen pflanzt.“ Das sei eben noch lang kein produktives Ökosystem, und es stehe in keinem Verhältnis zu den Schäden, die der Konzern hier schon zu verantworten hätte.

Der deutsche Energiekonzern RWE ist in Sachen Umweltschutz gewiss nicht untätig. Seit einigen Jahren hat RWE in seinem Management die Maßnahmen der ISO 14001 implementiert, die auf kontinuierliche Verbesserungen unter Anderem der bestehenden Ökobilanzen abzielt. Der Umweltschutz ist dem Riesen ein geläufiges Thema. Im öffentlichen Diskurs verhält sich das Unternehmen aber zurückhaltend. „Wesentliche Teile unserer Wertschöpfungskette – Förderung von Braunkohle, Erdöl und Erdgas“, gibt der Konzern zu, seien „teilweise mit erheblichen Eingriffen in die Umwelt verbunden.“. Teile der Gewinne würden aber zurück in den Schutz der Umwelt fließen. Nach eigenen Angaben hat RWE im Jahr 2015 zwei Milliarden Euro für den Umweltschutz ausgegeben. Dabei wurden die gesetzlich angeforderten Mindestmaßnahmen mit einberechnet. „Der Umweltschutz ist umfassend gesetzlich geregelt. Die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und Regelungen steht für uns dabei an erster Stelle.“, schreibt der Konzern auf seiner Webseite. „Davon hängen Erhalt und Fortbestand der Betriebsgenehmigungen und unsere Reputation in der Öffentlichkeit ab.“. Diese Maßnahmen umfingen unter Anderem auch die von Jessy kritisierte Rekultivierung zerstörter Waldflächen durch das Pflanzen von Bäumen und profitable „Rückgaben“ von Flächen an die landwirtschaftliche Nutzung – ausgerechnet, da doch gerade die konventionelle Landwirtschaft im starken Verdacht steht, einen Rückgang der weltweiten Biodiversität mit zu verantworten. RWE wirbt öffentlich mit einem Diversity-Management und setzt in seiner Interna explizit auf die Kraft der Vielfalt. „Studien haben bewiesen, dass Firmen geschäftliche Vorteile aus dem geschickten Managen von Diversity ziehen können“, schreibt der Konzern. Hier geht es allerdings um menschliche Vielfalt. Um Kulturen, Orientierungen, Identitäten. Auch diese ist löblich, doch die Relevanz der Biodiversität für den Fortbestand des globalen Lebens bleibt unkommentiert.

Bildrechte: Philipp Steiner. Die alte Straße. Vorne Türmchen aus Bausteinen. Hinten Bauschutt, Bar und Liegestühle.

Einige hundert Meter hinter dem Dorf Gallien, auf der anderen Seite des Waldes, führt der Weg hinaus zum großen Loch. „Loch“, so nennt Jessy das ausgehobene Tagebaugebiet. Wenn der RWE mit dem Kohleabbau fertig ist, soll es bis zu 400m tief sein und mit Wasser gefüllt werden. Das ergäbe dann Deutschlands zweitgrößten See. Ein vor Kurzem eroberter Zubringer der ehemaligen Autobahn endet abrupt in der Abbruchkante des Tagebaus. Bevor die AktivistInnen die Straße für sich gewonnen hatten, nutzten Rodungsmaschinen und Polizeifahrzeuge die Straße, um in die Waldlager zu gelangen. Jetzt ist die Straße von den BesetzerInnen weitestgehend unbrauchbar gemacht geworden. Tiefe schwarze Krater durchziehen den grauen Teer, eine Strandbar mit Feuertonne steht neben einem Hügel aus Bauschutt. Schilder, dreibeinige Masten, Flaggen, Skulpturen und Barrikaden ziehen die Aufmerksamkeit von der beschädigten Straße auf sich. Eine skurrile Kreativität durchzieht hier alles, was die BesetzerInnen umsetzen. Es riecht nach verbranntem Holz, in der Feuertonne schwelt es noch. Unwirklich und utopisch wirkt dieser Ort, der sich ohne sichtbare Strukturen selbst verwaltet und sich wie selbstverständlich über die statischen Gesetze einer rechtspositivistischen Landeskultur hinweg setzt. Der Geist dieser bunten und unberechenbaren Gemeinschaft ist ihre unsichtbare Galeonsfigur – eine destruktive wie schöpferische Kraft, die ihr Unwesen treibt. „Mittlerweile hängt da vorne ein Schild ‚Hambacher Forstbesetzung – Besucherparkplatz‘“, lacht Jessy, während sie interessiert die neue Bar erforscht. „Die ist neu…“, schmunzelt sie und begutachtet die Bar gleichwohl belustigt, wie erstaunt.

An der Abbruchkante bläst ein schneidend kalter Wind. Der Erdwall bildet die Grenze zu der öden Senke, die in der Ferne zu einem braunen Horizont verschwimmt. Plötzlich vermummt sich Jessy. „Ich möchte ungern, dass die mein Gesicht kennen“, sagt sie und zeigt mit ihrem Finger auf einen tarnfarbenen Jeep hinter dem Stacheldrahtzaun des RWE. Der Motor läuft, das Licht ist an, und wiederholt wird sie durch das Fenster fotografiert. „Ab diesem Wall hier geht‘s dann immer weiter runter, das ist wie man sieht auch kein Wald mehr, und das darf man nicht mehr betreten.“ Wo das Betreten nicht mehr erlaubt ist, da erstreckt sich die Spielwiese der AktivistInnen. Aus ihrem Aktivismus machen die BesetzerInnen keinen Hehl. Viele vergangene Aktionen und Ideen lassen sich auf ihrer Webseite einsehen. Das Projektmanagement ist professionell: zunächst werden Befindlichkeiten ausgetauscht und besprochen. Sorgen und Einwände werden berücksichtigt, schlechte Erfahrungen gemeinsam behandelt. Es gibt keine Zwänge, und das ist den vielen und unabhängigen Akteuren auch sehr wichtig. Niemand soll etwas tun, womit er oder sie sich nicht wohl fühlt. In der Regel werden in kleinen und unabhängigen Kreisen gemeinsam Ziele gesetzt, Strategien entworfen und Aktionen geplant, Wirkungen anschließend evaluiert. Alle tun, was sie selbst für richtig halten, so wie sie es für richtig halten.

RWE hat Respekt vor den AktivistInnen gelernt. Während der diesjährigen Rodungssaison von Oktober bis März verhält sich der Konzern bisher etwas vorsichtiger. Die AktivistInnen sind sehr gut vernetzt und wissen schon einige Tage im Voraus, wie und wann etwas geschehen soll. Innerhalb weniger Minuten werden über einen SMS-Verteiler mehr als 7000 Menschen europaweit erreicht, um die Baumhallen innerhalb weniger Tage mit mehreren tausend Menschen zu füllen. Auf diese Weise ist es schon wiederholt gelungen, Rodungen durch den RWE und Räumungen durch die Polizei zu verhindern. Gemeinsam wird sich friedlich den Maschinen und Beamten in den Weg gestellt. Mit wachsender Popularität und öffentlichem Interesse an der Besetzung steigen die Spenden und die Teilnehmerzahlen solcher Veranstaltungen.

Jessy selbst ist überzeugte Pazifistin. Ein gewalttätiges Auftreten ist ihre Sache nicht. „Für mich war meine krasseste Grenzerfahrung die Hambach-Bahn – mit einem Lock-on dort zu sitzen. Das war für mich so das Krasseste, weil es herausfordert, von der Polizei mit in Gewahrsam genommen zu werden. Aber man hat halt die Bahn für einen Tag aufgehalten.“. Die Hambach-Bahn verfrachtet die Kohle vom Tagebau in eine Lagerhalle, wo sie getrocknet wird. „Die muss dann sehr, sehr lange trocknen. Und da die Kohle hier so krass nass ist, muss die Kohle noch mit anderer Kohle, die sie von ganz weit her anschippern, vermischt werden, weil sie viel zu nass ist, um sie zu nutzen.“, erklärt Jessy. Teilweise käme diese Kohle aus Europa, und teilweise von noch weiter weg. Anschließend wird die Kohle zu Kraftwerken in Deutschland gesendet, wo sie dann verbrannt wird, um Strom daraus zu gewinnen. Unter den Waldbewohnern handelt es sich dabei um ein Faktum. Die Stelle Konzernkommunikation & Energiepolitik des RWE verneinte diesen Vorwurf nicht.

Die Kohlekraftgewinnung hat in Deutschland eine lange Tradition, und noch heute ein großes Gewicht. 2016 wurden fast 50% der gesamten deutschen Stromproduktion aus der Verbrennung von Kohle gewonnen. Wegen des geringen Wirkungsgrades und der extrem hohen Emissionswerte der Kraftwerke ist diese Form der Energiegewinnung zunehmend in die Kritik geraten. Bei dem Verfahren können maximal 30%-40% der bei der Verbrennung frei werdenden Energie in Strom gewandelt werden. Dabei produzieren die deutschen Kohlekraftwerke mehr CO2, als der gesamte deutsche Straßenverkehr. Die RWE-Power-AG gehört zu den größten CO2-Emittenten der EU. Ihr gehören drei der emissionsstärksten Kohlekraftwerke der gesamten Europäischen Union. Aus klimapolitischer Sicht stellt RWE ein echtes Problem dar. Dank des Energieriesens gehört Deutschland zu Europas größten CO2-Sündern – und in der Zeit der großen Energiewende. Aber Strom ohne Kohle, und ausgerechnet in einer traditionellen Industrienation wie Deutschland, ist das möglich? Das Beispiel England sagt ja: Im April 2017 wurde in England zum ersten Mal seit Beginn seines Status als Industrieland für 24h kein Kohlestrom produziert. In der Politik präsentiert und äußert man sich gern umweltfreundlich. Der Ökonom Dieter Helm, Professor für Energiepolitik an der Universität Oxford, ergänzt das Bild damit, dass sich der Kohlestrom schlichtweg nicht mehr lohne. Der ökonomische Druck auf die Produktion von Kohlestrom steigt – auch in Deutschland.

Noch betreibt der RWE eine stille Politik, was die Zukunft des Kohlestroms angeht. Man will nicht in der Öffentlichkeit stehen, und Anfragen zu weiteren Informationen werden nur ungern beantwortet. Die deutschen Energiekonzerne warnen zwar seit jeher in bekannter Manier die Öffentlichkeit, dass der Verlust von Atom- und Kohlestrom die Energieversorgung insbesondere im Winter gefährden könnte. Die Angst der Bevölkerung vor dem großen Blackout scheint sich aber in Grenzen zu halten. Beruhigend äußert sich auch die Agora-Energiewende Denkfabrik in ihren Veröffentlichungen: Deutsche Gas- und Ersatzkraftwerke mit deutlich geringeren Treibhausgasemissionen könnten selbst einen schnelleren Ausstieg aus dem Kohlestrom kompensieren, als bislang prognostiziert wurde. Doch wie soll dieser Ausstieg funktionieren, wenn sich gerade die relevanten Unternehmen dagegen sträuben? Der Kohleindustrie und ihren Akteuren fallen in der Energiewende immerhin eine Schlüsselrolle zu. Ohne die Reduzierung insbesondere der Braunkohleemissionen ist eine Grüne Energiewende de facto nicht erfolgreich. Und ohne die Investitionen eines Energieriesens wie dem RWE wird es noch länger dauern, bis Deutschland seinen Weg fort von der Kohle findet. Das unbeirrbare Handeln der deutschen Kohlewirtschaft zielt darauf ab, die gesamten deutschen Kohlevorkommen auszuschöpfen. Doch dafür müsste Deutschland in Zukunft womöglich gegen EU-Recht verstoßen. Vergeblich stimmte Deutschland vor Kurzem im EU-Parlament gegen schärfere Umweltauflagen. Die neu geltende Richtlinie, die bis 2021 unter Anderem eine deutliche Reduzierung von Stickoxid, Feinstaub und Quecksilber in den Emissionen vorsieht, wurde angenommen. Überraschenderweise hat Deutschland die Klagefrist entgegen des Drucks der Kohlelobby verstreichen lassen und ist nicht gegen die neuen Auflagen vorgegangen. Als Konsequenz müssten nun viele Kohlekraftwerke schnell nachgerüstet oder geschlossen werden.

Bildrechte: Philipp Steiner. Der wärmeisolierte Tower im Herzen des Waldes wird ohne Nägel von vier Bäumen getragen.

Der anstehende Winter macht sich im Lager durch die eisigen Temperaturen bemerkbar. Die Menschen rücken zusammen und ziehen in die beheizten Häuser. Beeindruckt wirkt Jessy dadurch aber nicht. „Es ist jetzt nicht so, dass der Winter kommt und oh, wir müssen das und das und das machen. Wir isolieren unsere Baumhäuser von vornherein.“ Viele der Bewohner der Dörfer im Wald bleiben im Winter nicht hier. Einige gehen wieder arbeiten, andere studieren, und wieder andere sind auf Weiterreise. „Man bereitet sich hier im Herbst eher auf die Rodungen vor, als auf den Winter.“ Jessy erläutert ihre Strategien, während sie über den kalten Schlammpfad zurück zum Lager stapft. „Die Häuser werden ausgestattet mit ganz viel Essen, was sich hält, in Dosen, und so Sachen, die sich lang halten, und viel Wasser, damit die Leute auch tagelang in den Baumhäusern ausharren können.“ Denn wenn die Kettensägen unten warten, müssen die BesetzerInnen standhaft bleiben. „Das nötige Feuerholz zum Heizen machen wir aus dem Totholz, das hier herumliegt.“ Die Rodungssaison ist immer in den Wintermonaten. „Das ist ganz klar immer so weil die Zugvögel alle weg sind, und man währenddessen den mitunter geschützten Zugvögeln das Zuhause nehmen kann, und die sich dann ein neues Zuhause suchen.“ Bei anderen Tieren wird anders verfahren. Die nach Deutschem sowie EU-Recht geschützte Bechsteinfledermaus ist ebenfalls ein häufiger Bewohner des Hambacher Waldes. Auch sie muss dem Tagebau weichen. Dafür wird jedes Individuum aus seiner hölzernen Behausung ausgesperrt. Sobald sie ausfliegen, werden ihre Baumhöhlen abgeklebt, sodass sie weiter ziehen müssen. Auf diese Weise sollen die Tiere aus dem Wald vertrieben werden, damit sie keine Schäden beim Roden erleiden. Doch nicht nur der RWE ist den tierischen Waldbewohnern ein Dorn im Auge. Immerhin wohnen seit mehreren Jahren Menschen dort, und ihre Schritte haben Spuren hinterlassen. Jessy sieht die Belagerung des Waldes ebenfalls kritisch. „Ich wär‘ auch ganz froh, wenn, falls der RWE einen völligen Rodungsstopp verkündet, die Menschen hier dann auch ganz schnell wieder raus sind. Mir gefällt es hier super, ich würde auch gerne mein ganzes Leben hier bleiben. Aber dies‘ ganze Plastik im Wald… In den meisten Baumhäusern ist viel Plastik verbaut, und das ist nicht gut für den Wald.“ Auch die ansässigen Tiere will sie nicht vom Menschen geprägt haben: „Die Haselmäuse kommen langsam an und haben schnell entdeckt, dass unser Essen ganz gut ist. Und die wissen, wo es steht, und dann essen sie es und verlernen dabei aber, sich selbst zu versorgen.“ Die Versorgung der BesetzerInnen selbst basiert auf Spenden. Hin und wieder fahren Autos und Busse vor, die den wackeren ÜberwinterInnen Nahrungsmittel bringen. Die BesetzerInnen selbst gehen Containern, um möglichst wenig Spendengeld auszugeben und um weggeworfene Lebensmittel weiter zu verwerten. Wenn das nicht getan wird, dann gibt es nichts zu Essen. „Naja, wenn Menschen halt zu faul sind irgendetwas zu tun, dann ist das halt so“, schmunzelt sie, während sie mit schmatzenden Schritten im Slalom zwischen den Barrikaden und tiefen Löchern im Boden hindurch geht. „Wir brauchen natürlich immer Unterstützung“. Die Gemeinschaft hat Spendenkontos und eine Webseite eingerichtet, die Neugierigen alle nötigen Informationen anbietet.

Von weit entfernt dringt das ewige Rauschen der Autobahn zu ihr her. Es ist noch kälter, und die Luft ist noch nasser geworden. Auf dem Boden liegt kein Müll. Der Pfad ist gesäumt von Transparenten, die mittlerweile schwer zu lesen sind. Es ist später Nachmittag, und die Dezembersonne geht langsam unter. Hier wohnt Jessy. Wie sie wirklich heißt, wird sie kaum jemand fragen. Hier zählt nur, dass sie beteiligt ist. Und Jessy ist froh, hier noch eine Weile zu Hause zu sein.

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