Wir müssen über ADHS reden.
Denn wenn es euch wie mir geht, dann seid ihr in der Überzeugung aufgewachsen, dass ADHS eine Störung ist, die nur Kinder betrifft, alle Zappelphilipps und Hans-Guck-In-Die-Lufts. Oder ihr denkt, dass die Diagnose eine Erfindung der Pharma-Industrie ist, um Geld mit verzweifelten Eltern zu machen. Was ich selbst lange nicht verstanden habe, ist, dass ADHS eine Art zu denken ist, die viel mehr beeinflusst als die Fähigkeit, sich zu konzentrieren oder stillzusitzen, die unerkannt oft in einer tiefen Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben endet oder sogar in Depressionen, Suchterkrankungen, Angst- oder Essstörungen – Bis ich heraus gefunden habe, dass auch ich an ADHS leide und angefangen habe, zu lernen, wie dies mein Leben prägt.
ADHS wirkt sich auf jeden Lebensbereich aus, und auf jeden Aspekt einzugehen, würde hier den Rahmen sprengen. Dennoch werde ich versuchen, euch in diesem Text ein etwas klareres Bild davon zu malen, wie sich ADHS auf ein Leben auswirken kann und wie es sich anfühlt, damit zu leben:
ADHS ist ständige Überforderung, von innen und von außen.
Jede wache Minute führe ich Selbstgespräche auf mindestens zwei Sprachen, habe fünf Ohrwürmer auf einmal, plane 48 neue Projekte. Ich habe ständig das Gefühl, meinen eigenen Gedanken hinterher zu rennen und meine To-Do-Liste wird immer nur länger.
Ich bin vergesslich, tollpatschig und desorganisiert.
Neunzig Prozent der Zeit bin ich damit beschäftigt, mein Chaos in Zaum zu halten oder darüber nachzudenken, welche wichtige Sache ich wohl heute vergessen habe.
Ich kann nichts von dem ausblenden, was um mich herum passiert. Sinnesreize prasseln ungefiltert auf mich ein. Mit mir in einer lauten Umgebung zu reden, kannst du knicken, weil sich alle Geräusche zu einem einzigen Rauschen vereinen. Emotionen anderer Menschen verschmelzen mit meinen eigenen. Irgendwann bin ich absolut sensorisch überladen, was entweder in einem MigräneAnfall endet, in einem Zustand extremer Angespanntheit bis hin zu ewiger Schlaflosigkeit und Angstzuständen, oder damit, dass ich mich eine halbe Woche in meinem Zimmer einschließe.
ADHS fühlt sich für mich an, als hätte ich keine Kontrolle darüber, was ich tue, wofür Motivation da ist und wofür nicht. Ich kann Dinge nur dann erledigen, wenn ich entweder unter Druck stehe oder mich gerade extrem für eine Sache begeistere – Lenken kann ich das nicht.
Ich begeistere mich schnell und heftig für die unterschiedlichsten Dinge. Lernen, Laute zu spielen, weil auf dem örtlichen Flohmarkt gerade eine verkauft wird? In einem Anflug von Minimalismus all meine Besitztümer aufgeben? Eine Nacht lang fünf verschiedene Inszenierungen von Macbeth anschauen? Sounds good to me. Lange hält diese Begeisterung aber selten an.
Und wenn der Funke nicht im passenden Moment aufblitzt, sieht mein Tag eher so aus wie heute: Ich sitze seit Stunden am Computer und versuche, einen Text zustande zu bringen. Ich starre den blinkenden Cursor auf der leeren Seite an. Ich bin nicht gerade inspiriert. Ich hole einen Stapel Bücher, um Inspiration zu finden. Ich lese zwei Seiten und habe vergessen warum. Ach ja, Inspiration. Pinterest, ich könnte auf Pinterest schauen. Irgendwie ende ich auf einer Rezept-Seite und erinnere mich: Seit Tagen will ich Hummus machen. Dauert ja nur zwei Minuten, das wird jetzt schnell erledigt. Irgendwie dauert es doch 40 Minuten und außerdem habe ich die Hälfte der Zutaten vergessen und muss von vorne anfange. Jetzt habe ich Hunger, und mit leerem Magen kann ich mich eh nicht konzentrieren. Also wird gegessen. Irgendwie macht mich das aber müde. Lüften hilft bestimmt. Ich sitze wieder vorm Computer. Plötzlich erinnere ich mich an etwas, was mein Kurdischlehrer vor ein paar Tagen zur Geschichte Kurdistans erzählt hat, das wollte ich doch nachlesen. Eine Stunde später weiß ich alles über den Kampf Roms und Persiens um Kurdistan und habe noch immer keinen Satz geschrieben. Kaffee hilft bestimmt. Aber wo habe ich nochmal das Kaffeepulver abgestellt? Wenn ich es jetzt eh suche, könnte ich nebenbei doch ein bisschen aufräumen. Und die Spülmaschine müsste auch ausgeräumt werden.
Stunden später sitze ich wieder am Computer und starre auf den blinkenden Cursor.
Aber genau so absolut, wie meine Motivation und Aufmerksamkeit sich oft irgendwo in der hintersten Ecke meines Hirns verkrümeln, tauchen sie manchmal plötzlich wieder auf:
Irgend ein Thema dringt in meine Bewusstsein, ich finde es ganz interessant. Ich recherchiere ein bisschen dazu, lese nur die ein oder andere Sache nach. Schaue zwei oder drei Dokus. Bestelle ein paar Bücher. Na ja, eher eine ganze Bibliothek. Es fühlt sich gut an, ich bin vollkommen fokussiert, ich bin lebendig, begeistert, stimuliert, wach. Nichts bringt mich raus, es ist meine Superkraft, diese „Hyperfokussierung“. Endlich funktioniere ich. Ich kann in einer Nacht 12 Seiten wissenschaftliche Abhandlungen schreiben, lernen, Gitarre zu spielen, die Grundlagen der Quantenphysik lernen. Ich muss nicht essen, nicht schlafen, keine Pause machen.
Aber irgendwann sind drei Tage vergangen und ich merke: Ich habe in den letzten Tagen nicht gegessen, geschlafen, keine Pause gemacht. Ein Teil von mir ist ganz schön müde, ein anderer Teil kann immer noch nicht von meiner neuen Obsession ablassen. Aber eigentlich bin ich langsam ein bisschen genervt, ich habe schließlich seit Tagen an buchstäblich nichts anderes gedacht und mein Gehirn ist ein bisschen überfordert mit dem Overflow an neuen Informationen. Ich merke, wie meine Begeisterung immer weiter abnimmt. Irgendwann sitze ich da, vollkommen ausgelaugt, gelangweilt, nichts kommt an die Stimulation der letzten Tage heran. Ich will schlafen, aber mein
Kopf ist viel zu angespannt. Meine Begeisterung ist verschwunden, was bleibt, ist quälende Langeweile. Die Autorin Stacey Turis hat es einmal sehr treffend ausgedrückt:“I’m either stimulated or dying inside“. Tja, jetzt bin ich dabei, innerlich zu sterben. Meine verzweifelte Suche nach Stimulation endet meistens am Süßigkeitenschrank, mit fünf Tassen Kaffee in zwei Stunden, 33 Folgen irgend einer Trash-Serie am Stück oder Hochrisikoverhalten für den Adrenalin-Kick. Und ein paar Tage später kommt dann die Rechnung für einen Haufen Bücher über irgend ein random Nieschenthema, die ich in meinem Gedankenhigh bestellt habe und vermutlich niemals lesen werde.
ADHS heißt ein Leben voller loser Enden zu leben. Ein Leben ohne Beständigkeit, in dem ich von einer Hyperfokussierung zur nächsten springe. ADHS ist sinnlos investierte Lebenszeit für ein neues Hobby, ein neues Interesse, dass mich spätestens nach ein paar Wochen zu Tode langweilt. Ich spiele fünf Instrumente, keins davon besonders gut. Auf irgend einer Festplatte liegen Anfänge für sieben verschieden Manuskripte begraben. Ich habe ein halbes Vermögen ausgegeben für Nähmaschinen, Fotoequipment, Mitgliedschaften in nie besuchten Vereinen, die Liste ist endlos.
ADHS ist, mein Zimmer aufzuräumen, kurz vor Schluss die Motivation zu verlieren und fünf Wochen in einem unbezogenem Bett zu schlafen. ADHS ist, Freund*innen zu verlieren, die mir viel bedeuten, weil ich dennoch vergesse, mich bei ihnen zu melden. ADHS ist, ständig neue Pläne für Routinen zu entwickeln, für einen neuen Trainingsplan, Ernährungsplan, Arbeitsplan, und sie nie durchziehen zu können. ADHS ist die ständige Angst, etwas verpeilt zu haben. ADHS ist, eine Stunde lang zu Fuß nach Hause zu laufen, weil ich an der Bushaltestelle verträumt habe, dass mein Bus gekommen ist. ADHS ist, alle Menschen in meiner Umgebung mit meiner neuen Obsession zu nerven, weil ich viel zu viel darüber rede, und ständig das Gefühl zu haben, ich wäre zu viel oder anders oder falsch. ADHS ist, davon überzeugt zu sein, dass ich faul, tollpatschig, unfähig und verantwortungslos bin. ADHS ist, alles extremer zu erleben, zu machen, meinen Impulsen vollkommen ausgeliefert zu sein.
ADHS ist das Gefühl, keine Kontrolle darüber zu haben, wann ich funktioniere und wann nicht.
Vor allem ist ADHS die Trauer über Potential – so viel Potential! –, auf das ich nie zugreifen kann, wenn ich will, das ich in nichts dauerhaft investieren kann.
ADHS ist die Trauer über die Diskrepanz zwischen dem Leben, das sein könnte, und dem, das ist.
Erst mal danke für den Artikel. Auch wenn er sehr lang geworden ist, ist er schön.
Ich würde nur zu bedenken geben, dass hier eine sehr einseitige Darstellung von ADHS geliefert wird. Ich kenne einige Personen mit ADHS, die sich völlig anders verhalten. Die sehr strukturiert und organisiert ihr Leben bestreiten. Es gibt auch unmengen an Personen, die keine ADHS-Diagnose haben und sich beinah 1 zu 1 genauso verhalten wie in dem Artikel beschrieben. Also würde ich auch immer davonausgehen, ob mit oder ohne ADHS, jeder auch eine eigene Persönlichkeit besitzt. Diese wirkt sich dann auch auf sein (Sozial-)Verhalten aus. Nur so am Rande.
Viele Grüße
Katarona
Es ist interessant, wie unterschiedlich sich ADHS auf den einzelnen Menschen auswirken kann. Mein Kind hat ähnliche Schwankungen, allerdings nicht so extrem. Als Vater möchte ich für meinen Sohn natürlich, dass ihm da auch gut geholfen wird. Um Klarheit zu schaffen, werden wir eine erfahrene Praxis besuchen und uns um das Thema ADHS beraten lassen.