Lesen, um zu verstehen: Fiktionale Literatur zum Faschismus

Der letzte Artikel unserer Artikelreihe im Mai zu den Themen Rechtsextremismus, Antisemitismus und der deutschen Vergangenheit: Fünf literarische Werke, die sich auf den Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seine Voraussetzungen und Folgen beziehen.

Was leistet Literatur, was leisten Kunst und Kultur? Diese Frage wird seit der Antike – etwa bei Horaz im normativen Gewand (Was soll Literatur leisten?) – immer wieder diskutiert und ist auch gegenwärtig Gegenstand unterschiedlicher Forschungsdisziplinen. Sie ist so umfassend, dass an dieser Stelle weder eine Antwort gefunden werden kann noch soll. Entscheidend ist die Möglichkeit: Was können literarische Werke leisten?

Fiktion statt Fakten?

Romane und Erzählungen, Stücke und Gedichte sind fiktionale Werke. Sie orientieren sich zuweilen an der Realität, bilden diese eventuell ab, aber sie erheben nicht den Anspruch, dass ihr Inhalt wirklich so passiert ist. Sie vermitteln keine Fakten. Wieso sollte man sie trotzdem lesen? Der Philosoph Oliver R. Scholz stellt fest, »dass fiktionale Werke [im Sinne des Humanismus, Anm. d. Red.] wesentlich zur Bildung und Vervollkommnung des Menschen beitragen« [1].

Literatur hat diesen hohen Stellwert, da sie uns etwas mitgeben kann, was kein Sachtext, keine Auflistung von Fakten kann: Durch Empathie, durch das Einfühlen in eine Geschichte, in Figuren können wir ein Verständnis für Handlungen und Situationen, für Aktionen und Reaktionen von Menschen bekommen. Wir lesen und stellen es uns vor. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man etwas wirklich erlebt hat oder es nur liest. Aber eine Annäherung ist möglich, eine Annäherung daran, wie es ist, wenn einem Menschen etwas widerfährt, wenn er etwas erlebt.

In diesem Verständnis sind auch die folgenden Literaturempfehlungen zu sehen. Sie basieren auf einer subjektiven Auswahl und sollen ein Einfühlen, ein Mitfühlen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in die Zeit des Nationalsozialismus ermöglichen. Wie kam es zum Faschismus? Wieso war er in Deutschland so extrem? Was waren die Folgen? Wie haben die Menschen damals gehandelt, sich gefühlt – und warum?

Ein weiterer Ansatz neben Literatur, um die NS-Zeit zu nachzuempfinden:
Das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl von SWR und BR.

1.     »Die Schachnovelle« von Stefan Zweig

Stefan Zweig, der selbst vor den Nationalsozialisten fliehen musste, skizziert in seiner Novelle eine Überlebensstrategie: Ein ehemaliger Gefangener der Gestapo findet in seiner Zeit der Haft und Folter Halt im Schachspiel. Regelhaftigkeit und Muster stehen der Einsamkeit und Entmenschlichung gegenüber. Eindrücklich wird diese besondere Bedeutung von Schachpartien als Rettungsanker beschrieben – ohne dabei tiefgehende Kenntnisse über das Spiel vorauszusetzen. Die Rückkehr in den Alltag nach der Einzelhaft in Österreich scheint zunächst zu gelingen, jedoch kehren mit neuen Partien auf einem Passagierschiff auch alte Verhaltensweisen aus der Haft zurück…

2.     »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth

Das Theaterstück, das den zynischen Untertitel „Ein christliches Trauerspiel“ trägt, zählt zu jenen Werken, die gesamtgesellschaftliches Aufsehen erregten. Ausführlich und eindrücklich legt der Dramaturg dar, inwieweit der Vatikan, das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Pius XII., um die Vorgänge in den Konzentrationslagern wusste – und nicht handelte. Obgleich die Dialoge und die Handlung um die Bestrebungen des Paters Riccardo Fontana, den Papst zum Handeln zu bewegen, primär fiktionaler Natur sind, fußen sie auf historischen Vorbildern – Pater Maximilian Kolbe (Häftling Nr. 16670 in Auschwitz) und Prälat Bernhard Lichtenberg –, Dokumenten und nicht zuletzt auf den realen Geschehnissen.

3.     »Der Untertan« von Heinrich Mann

Der 1918 erstmals erschienene (aber bereits 1914 fertiggestellte) Roman bildet die große Ausnahme unter den hier empfohlenen Werken, schließlich spielt er nicht direkt in der Zeit des Nationalsozialismus – jedoch unmittelbar davor. Anhand des Fabrikantensohns Diederich Heßling drückt Heinrich Mann den preußischen Untertanengeist und die Obrigkeitshörigkeit zuzeiten des deutschen Kaiserreichs (1871 – 1918) aus. Dieser autoritäre Militarismus trug – neben weitverbreitetem Antisemitismus und anderem – zum Fundament bei, auf dem die NSDAP nur wenig später aufbauen konnte.
Der Liberale Buck erwidert, nachdem Heßling dem Nationalismus eine glorreiche Zukunft prophezeit, in einem Streitgespräch: »Die Zukunft? Das ist eben die Verwechslung. Die nationale Tat hat abgehaust, im Lauf von hundert Jahren. Was wir erleben und noch erleben sollen, sind ihre Zuckungen und ihr Leichengeruch. Es wird keine gute Luft sein«[2]. Leider sollte er Recht behalten.

»Der Untertan« wurde 1951 auch in der DDR verfilmt
– wo er Pflichtlektüre in der Schule war.

4.     »Wanderer, kommst du nach Spa…« von Heinrich Böll

Obgleich sie nur wenige Seiten umfasst, hat die Erzählung „Wanderer, kommst du nach Spa…“ ihre Berechtigung, in dieser Liste aufgeführt zu werden. Heinrich Böll, selbst ehemaliger Soldat der Wehrmacht und einer der herausragendsten Nachkriegsautoren, schildert darin prägnant das Schicksal eines schwerverwundeten Rückkehrers aus dem Krieg. Der Junge soll in seiner ehemaligen Schule notoperiert werden. Es ist eine intensive Darstellung der Folgen des Krieges.

5.     »Geh fort wenn du kannst« von Luise Rinser

Auch die letzte Empfehlung befasst sich mit den Folgen des Faschismus: Zwei junge Frauen sind am Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien zunächst in Partisanenkämpfe verwickelt, finden jedoch bald Zuflucht in einem verlassenen Kloster. Ihre Art zu leben wandelt sich, nachdem die Nonnen zurückkehren und sich die beiden Frauen entschließen, dort zu bleiben, obgleich ihnen zu gehen freigestellt ist. Die Novelle stellt das Empfinden der Protagonistinnen in das Zentrum und verkommt dabei nicht zu einem christlichen Missionierungsversuch. Eine fesselnde Lektüre!


[1] Oliver R. Scholz (2014): Fiktionen, Wissen und andere kognitive Güter. In: Tobias Klauk, Tillmann Köppe (2014): Fiktionalität: Ein interdisziplinäres Handbuch. Walter de Gruyter, Berlin. S. 209-234 (211)

[2] Heinrich Mann (1983): Der Untertan. Deutscher Bücherbund, Stuttgart (=Bibliothek des 20. Jahrhunderts). S. 320


Bildquelle: Montage von Alessandro Stephan unter Verwendung von Bildmaterial von pixabay.com

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