Manche kennen ihn als Dozenten der Germanistik, manche als Michael Bahn, die meisten aber wohl als „den mit dem Schaf auf Instagram“. Er ist nicht nur Dozent, sondern auch Autor. Ein Gespräch über sein Plüschschaf, die Grenze zwischen Fiktion und Realität, einen homosexuellen Protagonisten und mehr.
Interview: Alessandro Stephan
[La-Uni]: Sie leben ja in Berlin mit einem Schaf zusammen, das Roy heißt und im Juni 2016 geboren wurde. Ist das richtig?
[Michael Bahn]: Das ist tatsächlich korrekt. Roy ist Teil unserer kleinen Runde hier in Berlin, unser Mitbewohner und er ist sicherlich schon etwas früher auf die Welt gekommen, hat sich aber 2016 das erste Mal in unser Leben geschmuggelt und ist seitdem fester Bestandteil davon, ja.
Würden Sie sagen, dass Roy wirklich lebt oder nur manchmal die realen Grenzen als Plüschschaf missachtet und überschreitet?
Ich würde sagen, Roy ist eine Figur, die es schafft, die Grenzen zwischen Fiktionalität und Realitätmanchmal ein bisschen aufzuheben. Leben würde ich ihm jetzt nicht zuschreiben wollen – wobei natürlich immer die Frage ist, was man unter Leben definiert. Aber er ist eine Figur, die sehr gut in der Lage ist, Beziehungen zu anderen aufzubauen und damit einen Zugang in einer ganz neuen Art und Weise zu schaffen, den man vielleicht selbst so nicht herstellen würde.
Wie Roy spielt auch Ihre Literatur, die Roman-Reihe um Simon Brand, mit der Grenze zwischen Realität und Fiktionalität. Was bedeutet für Sie die Realität bzw. was ist für Sie real?
Real ist für mich erstmal ganz grundsätzlich das, was man empirisch verifizieren kann. Gerade in den Zeiten, in denen wir uns jetzt bewegen, ist es schon ganz wichtig, dass man solche Unterscheidungen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion nochmal deutlich macht. Also alles das, was ich belegen kann, mit Experimenten oder ähnlichem, was also faktual ist, ist, was für mich erstmal grundsätzlich Realität auszeichnet.
Ein Teil von Realität ist aber auch das, was wir uns erhoffen, erträumen, was wir uns wünschen, was in unserer Fantasie geschieht, es ist nur möglicherweise nicht für andere Teil der Realität – also es ist dann nicht Common-Sense-Realität, sondern das, was für uns individuell die Realität ausmacht. Und insofern verwischen da dann auch die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, sodass das, was in der Vorstellung real werden kann, für andere weiterhin ein Wunschdenken bleibt.
„Jeder Text ist ja auch immer geprägt von dem,
was um einen herum passiert.
Davon kann man sich ja nicht freimachen.“
Also ist Fiktionalität für Sie ein Teil der Realität?
Es ist auf jeden Fall ein Teil der Realität, insofern als es auf den jeweiligen Träumen basiert. Also wenn ich zum Beispiel an die Simon-Brand-Reihe denke: Dann ist erstmal die Reihe als Buchreihe für mich natürlich Realität und solange ich an einem Buch sitze und schreibe – und auch darüber hinaus, wenn ich es wieder lese und darin eintauche –, ist es natürlich auch Teil meiner Realität und die Figuren, die in den Büchern entstehen, liegen mir natürlich ausgesprochen am Herzen, sonst könnte ich nicht über sie schreiben. Deswegen machen sie schon auch ein gutes Stück Realität aus; auch insofern, dass man in jede Figur immer auch ein bisschen was hineinprojiziert – sei es von sich selbst, von anderen oder aktuellen Tendenzen. Jeder Text ist ja auch immer geprägt von dem, was um einen herum passiert. Davon kann man sich ja nicht freimachen.
Woher kommt überhaupt diese Lust, diese Grenze zwischen Fiktionalität und Realität unscharf werden zu lassen, sie immer wieder zu überschreiten?
Ich glaube, das ist generell die Lust am Erzählen. Sei es das geschriebene Wort, sei es das Hörspiel, sei es die Inszenierung auf Instagram mit Roy – das ist natürlich auch die Möglichkeit, in eine Welt abzutauchen jenseits dessen, was einen real immer wieder beschäftigt. Also das eine sind die Dinge, denen man sich explizit stellen muss, weil sie aus den „Nöten“ entstehen, die einem tagtäglich begegnen, und das andere ist die Möglichkeit, eine Welt zu schaffen, die ein bisschen anders ist als das, was man tagtäglich erlebt. Und dieses Immer-wieder-zurückkehren-Können, vielleicht auch Welt gestalten zu können, so wie man das selbst möchte, und sich nicht in einer Welt zu bewegen, die einen auch ein Stück weit formt, sich also ein Stück Selbstermächtigung zurückzuholen – ich glaube, das liegt auch im Schreiben und im Erzählen insgesamt begründet.
Dieses Erzählen, dieses Schaffen einer eigenen Welt, diese Selbstermächtigung – würden Sie das auf Instagram übertragen? Also dass nicht nur Sie mit Roy eine eigene Welt erschaffen, sondern das eigentlich alle machen, die das benutzen?
Ohne jetzt anderen etwas unterstellen zu wollen, glaube ich schon, dass Instagram in den häufigsten Fällen – und zwar überall dort, wo man sich selbst zeigt – ein Stück Inszenierung beinhaltet. Die wenigsten, es wird welche geben, aber die wenigsten Menschen, die Instagram nutzen, werden ihre Welt so darstellen und sich selbst so darstellen, wie sie wirklich sind. Da sind natürlich allein die Filtermechanismen, die von vielen genutzt werden. Und natürlich trifft man eine Auswahl, was man postet. Man zeigt ja nie sein ganzes Leben, man zeigt immer nur einen Ausschnitt. Deswegen glaube ich schon, dass Instagram insgesamt, gerade weil es ein bildhaftes Medium ist, dazu dient, ein Stück Weltflucht zu betreiben: Sich selbst in einer Art darzustellen, die einen zumeist vorteilhaft dastehen lässt oder die eine Geschichte erzählt.
„Simon Brand“ überschreitet eine weitere – insbesondere in der Corona-Pandemie für viele spürbare – Grenze: die zwischen online und offline. Die Romane sind als Onlineblog verfasst. Ist dieser ein modernes Tagebuch?
Also wenn ich unter Tagebuch und vor allem unter Tagebuch-Roman definiere, dass er suggeriert, es handle sich um Einträge, die regelmäßig vollzogen werden und in Zeitabschnitten Momente des Lebens festhalten und zwar relativ zeitnah, dann glaube ich, ist es kein Tagebuch-Roman. Weil das, was im Roman beschrieben wird, ja eigentlich immer schon ein in sich abgeschlossenes, zurückliegendes Paket ist, das teilweise über mehrere Tage geht. Wenn man die Reihe im Ganzen betrachtet, dann haben wir ja schon in sich geschlossene Abschnitte, aber eben Abschnitte, also Erzählmomente aus einem Leben. Also als Reihe könnte man es schon – im weitesten Sinne – in Richtung Tagebuch-Roman schieben. Das hängt von der Auslegung ab.
Ein traditionelles Tagebuch ist ja zudem zunächst nicht öffentlich, ein Blog ist es aber ja von Anfang an. Verändert sich die Erzählweise durch diesen öffentlichen Charakter?
Auf jeden Fall, weil man sich dieser Öffentlichkeit ja bewusst sein muss, wenn man so etwas macht. Insofern wird ein Blog immer Dinge enthalten, die für die Öffentlichkeit aufbereitet sind. Das heißt nicht, dass er nichts Persönliches enthält, und mit Blick auf die Reihe sehe ich das auch so: Der Protagonist wird Dinge auswählen, die er erzählt, und er bereitet sie für die Lesenden auf.
Im Text selbst finden sich zahlreiche Hashtags, sie sind ein markantes stilistisches Mittel und treiben die Handlung voran. Im gedruckten Buch kann aber nicht auf andere Einträge so direkt verwiesen werden wie etwa in Onlineforen oder in sozialen Netzwerken. Warum also die Hashtags?
Die Hashtags resultieren daraus, dass ich eine Art des Erzählens für diese Geschichte finden musste. Blogs sind üblicherweise am Ende, manchmal auch mittendrin, mit Hashtags versehen. Statt des Verweisungscharakters im Digitalen übernimmt der Hashtag hier viel stärker eine Erzählfunktion: Dadurch dass der Blog eine Ich-Perspektive, also Simons Perspektive, wiedergibt, lässt sich über die Hashtags eine zweite Kommentarebene einfügen. Und das war der besondere Reiz, nicht nur diese Blogform, sondern auch diese Hashtags ganz neu und anders nutzbar zu machen. In Band II entwickeln die Hashtags schon eine stärkere kommunikative Funktion und ohne zu spoilern – weil ich gerade an Band III sitze – kann ich sagen, dass die Hashtags in Band III diese Funktion noch stärker einnehmen und teilweise ein Eigenleben entwickeln.
Nochmal zurück zur Verweisungsfunktion: Wer in Landau Germanistik studiert, wird schnell die Referenzen im Roman bemerken. So kommt prominent eine AI namens N.I.N.I., dem Kosenamen von Janin Aadam, oder eine Lehrerin namens Frau Jokisch vor. Das ist doch recht auffällig. Werden Sie selbst als Autor einmal eine Figur im Roman sein?
(schmunzelt) Das weiß ich noch nicht so richtig. Also die Romane beschreiben ja immer in sich abgeschlossene Abenteuer und trotzdem gibt es einen übergeordneten Handlungsbogen, der – ich bin da noch unschlüssig – auf sechs bis sieben Romane ausgelegt ist. Inwieweit ich in diesem Bogen selbst als Autor einen Raum habe – das passiert so ein bisschen im Schreibprozess, diese Geschichtsentwicklung – kann ich so noch gar nicht sagen. Ich will’s nicht ausschließen. Was ich sagen kann, ist, dass zumindest im dritten Band mein Name auftaucht.
„Es ist eben so,
es könnte auch anders sein,
es wäre eigentlich völlig egal.“
Kommen wir noch zu einem Thema, bei dem ich in der Vorbereitung auf das Gespräch nicht sicher war, ob ich es ansprechen soll: Homosexualität. Der Protagonist der Romane ist homosexuell. War es Ihnen wichtig, einen homosexuellen Helden zu schaffen, also einen Helden, der von einer heteronormativ geprägten Weltsicht abweicht?
War es tatsächlich. Das hat verschiedene Gründe.
Ein Grund ist, wenn man Texte schreibt – das habe ich am Anfang schon gesagt -, dann fließt da immer ein Stück von einem selbst ein. Und natürlich fließt da etwas von meiner Lebensrealität mit ein.
Dann ist es so, dass ich finde, dass gerade auch im fantastischen Bereich Held*innen mit einem queeren Hintergrund nicht so weit verbreitet sind. Wenn wir in dem Bereich der Literatur bleiben, die homosexuelle Figuren aufgreift, dann sind das häufig Coming-Out-Geschichten – und es sind Geschichten, die entweder sehr oft verbunden sind mit komödiantischen Verwirrungen oder mit einem Leidensdruck, um zu zeigen: Ihr müsst besser miteinander umgehen! Das ist wichtig, aber ich finde, es kann nicht der einzige Aspekt sein.
Was mir wichtig ist für diese Figur, ist, dass die Art, wie sie liebt, zwar eine Rolle spielt in dem Roman, weil es ein Jugendbuch ist und es natürlich darum geht, seinen eigenen Weg zu finden. Aber diesen Weg muss jeder gehen, egal welcher Orientierung. Das ist für einige ein bisschen leichter und für andere ein bisschen schwerer. Und es ist wichtig zu zeigen, dass dieser Aspekt zwar ein Teil der Figur ist, aber sie nicht auszeichnet: Sie findet ihren Weg, sie benennt auch an einigen Stellen Probleme oder Ängste und Sorgen, die sie hat, aber es ist nicht der Kern der Buchreihe. Es geht darum, es eben als einen Aspekt von vielen darzustellen und die Figur darüber nicht zu definieren, um dadurch diesen Raum zu schaffen: Es ist eben so, es könnte auch anders sein, es wäre eigentlich völlig egal. Weil Simon als Typ trotzdem eine Heldenfigur ist – im weitesten Sinne. Ungeachtet dessen ist es aber ein Aspekt seines Wesens und dieser Aspekt wirktwiederum auf die Art, was er macht und wie er es tut und wie er sich äußert zurück. Also es ist auch nicht so als ob es völlig egal wäre, es sollte nur gesellschaftlich nicht diskutabel relevant sein.
„Ich weiß nicht,
ob es die leicht schrägen Augen sind
oder das schräge Lächeln…“
Das ist auch der Grund, warum ich mir nicht sicher war, ob ich das überhaupt ansprechen soll, weil man, dadurch dass man es explizit macht, es ja zu etwas Besonderem macht, obwohl es ja eigentlich normal ist, Normalität sein sollte, aber häufig als etwas Abweichendes dargestellt wird.
Die letzte Frage stammt noch von einer Followerin: Was hat es mit dem Schaf auf sich? Viele sind davon zunächst irritiert, was das mit dem Schaf soll, gerade bei Instagram. Warum dieses Schaf, was hat es damit auf sich?
Es ist die Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen. Roy ist eine Figur und sie ist, soweit mir das bekannt ist, einmalig. Ich habe ein solches Schaf bisher nicht noch einmal gesehen. Ich glaube, er ist handgemacht, sicher bin ich mir nicht, er besitzt keinen Zettel, der irgendwelche Herkunftsmerkmale anzeigt. Und er besitzt etwas – ich weiß nicht, ob es die leicht schrägen Augen sind oder das schräge Lächeln – das viele Menschen tatsächlich anspricht. Wer der Figur Roy im wirklichen Leben begegnet, hat das Bedürfnis, mit diesem Tier zu sprechen. Die Inszenierung funktioniert. Das ist letztendlich das Entscheidende. Es ist ein Stück Erzählen in einer anderen Art, nicht schriftlich, sondern stärker bildlich. Solche Momente machen einfach Spaß. Weil man dann weiß, dass das, was man da erzählt, was man darstellt, für einige funktioniert, diese Illusion sich überträgt. Da sind wir wieder beim Vermischen von Wirklichkeit und Fiktion – und dieses Spiel liebe ich sehr: Immer wieder diese Grenzen herauszufordern. Dafür ist Roy das perfekte Vehikel.
Dr. Michael Bahn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Koblenz-Landau am Campus in Landau. Darüber hinaus ist er Autor der Jugendromanreihe „Simon Brand. Hüter der Welt“, deren erster Band „#ghosting“ auf der Longlist des Krefelder Phantastik-Preises stand. Michael Bahn schreibt auch Hörspiele, wovon „sMuschel & der rote Pirat“ den ersten Platz beim Wettbewerb „Unerhört“ belegte.
Simon Brand. Hüter der Welt #ghosting (Band 1)
Simon Brand. Hüter der Welt #wanderlust (Band 2)
Simon Brand. Hüter der Welt #larsaffair (Band 3)
Die Serie „Schreibende Menschen“ möchte unterschiedlichste Menschen vorstellen, die Unterschiedlichstes auszudrücken versuchten oder versuchen. Gemeinsam ist ihnen dabei immer eines: Das Medium der Sprache. Es sollen Autorinnen und Autoren vorgestellt werden – lebende, tote, bekannte und weniger bekannte. Mal auf diese, mal auf jene Art und Weise.
Bildquelle: Michael Bahn
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