Es ist eine Sprache, die kaum noch jemand kennt: Die Lagersprache, die Sprache der Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern während des Nationalsozialismus. Es war überlebensnotwendig, die Deutschen, aber auch die anderssprachigen Insassen zu verstehen. Wie konnte das gelingen?
Im Konzentrationslager wurde deutsch gesprochen. Die SS befahl auf Deutsch, Berichte wurden auf Deutsch verfasst – und die Häftlinge mussten möglichst schnell deutsche Schlüsselwörter lernen. Wer nicht wusste, was ein Appellplatz, was ein Blockführer war, wer nicht wusste, was Befehle wie Mützen ab! oder Antreten! bedeuteten, musste mit schrecklichen Folgen rechnen. Auf Nachsicht konnte man im KZ nicht hoffen, die Deutschen waren erbarmungslos.
Doch die Häftlinge – auch wenn sie einzelne Vokabeln verstehen und anzuwenden gelernt hatten – konnten deshalb nicht gleich deutsch sprechen. Vielmehr begann sich alsbald ein eigener Sprachgebrauch herauszubilden: Ein eigenes Vokabular, mit dessen Hilfe die KZ-Insassen auch miteinander kommunizieren konnten, obgleich sie aus bis zu 40 verschiedenen Nationen stammten und meist über keinerlei Deutschkenntnisse verfügten. Unter dem Zwang der „Vernichtung durch Arbeit“ bildete sich ein sprachliches Phänomen heraus, das nach 1945 als „Lagersprache“ oder – um die polnische Bezeichnung zu gebrauchen – als „Lagerszpracha“ bezeichnet wurde.
Lagersprache ist nicht gleich Lagersprache
Diese Bezeichnung erscheint beinahe etwas ungenau, denn sie erweckt den Eindruck, es hätte eine einheitliche Sprache über das gesamte KZ-System hinweg gegeben. Dem ist nicht so: Diese „Sprache“ diversifizierte sich über die einzelnen Lager und unterschied sich nach der jeweiligen Zusammensetzung der Nationalitäten. Einige Vokabeln gab es mit einer bestimmten Bedeutung nur an einem Ort, andere wurden durch Verlegungen von Häftlingen in andere getragen und verbreiteten sich. Allerdings waren in den unterschiedlichen KZs ähnliche Prozesse zu beobachten – und die Basissprache der Lagerszpracha war das Deutsche.
Der Slawist Boris Ottokar Unbegaun, selbst inhaftiert im KZ Buchenwald, unterscheidet diesen Sprachgebrauch weiter in den Argot und das Sabir. Er versteht darunter in diesem Zusammenhang unter dem Argot die Herausbildung einer eigenen Sprache mit Rückgriff auf eine einzelne Nationalsprache, also etwa die Vermischung des Polnischen mit typischen deutschen KZ-Ausdrücken. Dieser wurde nicht in der Kommunikation mit anderssprachigen Häftlingen verwendet. Das Sabir hingegen vermischte viele Sprachen auf der Basis des Deutschen miteinander und wurde so zur inoffiziellen Verkehrssprache der Insassen unterschiedlichster Erstsprachen.
Dies führte dazu, dass es zu „falschen“ Übersetzungen kam. Man schnappte einen Ausdruck auf und verknüpfte ihn mit einer vom Ursprung völlig unabhängigen Bedeutung. Ein markantes Beispiel ist der französische Ausdruck comme ci comme ça, was übersetzt etwa so viel wie „nicht besonders gut“ bedeutet. Dieser wurde in die Lagersprache als kamsi-kamsa übernommen und bedeutete alsbald „etwas zu organisieren“ – und wer im KZ etwas organisierte, besorgte nicht einfach etwas, sondern beschaffte sich meist unter hohem Risiko einen lebenswichtigen Gegenstand durch Stehlen, Aufsammeln, Tauschgeschäfte oder ähnlichem.
Im KZ spricht man vor allem: Deutsch!
Doch die Inhaftierten mussten vor allem deutsche Wörter beherrschen. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort konnte den Tod oder Schlimmeres bedeuten. Die Schikane der SS kannte keine Grenzen. Doch diese kümmerte sich natürlich nicht darum, ob ihre Opfer deutsch verstanden oder deutsch sprechen konnten. Die Konzentrationslager wurden nicht errichtet, um Menschen zu bilden, sondern um sie zu vernichten.
Folglich wurden auch deutsche Ausdrücke gehört, jedoch nicht einfach in die Erstsprachen übersetzt, sondern in die Lagersprache, das Sabir aus zig Sprachen, integriert. So kam es zu Wortbildungen wie heftlingi für Häftlinge und numery für Nummern (synonym anstelle von Häftlingen verwendet) oder wihajster als Ausdruck für etwas, wofür eine entsprechende Bezeichnung fehlt. Der deutsche Ursprung ist bei einigen der Vokabeln gut zu erkennen, sie wurden schlicht übernommen und nach den spezifischen grammatischen Regeln der Erstsprachen der Häftlinge (bei den vorher genannten Beispielen das Polnische bzw. Tschechische) gebildet.
Bei anderen kam es zu einer Teilübersetzung des deutschen Ausdrucks oder der Übernahme in anderssprachliche Strukturen. So lässt sich die Bedeutung von czerwonowinklowiec nur erschließen, wenn man weiß, dass czerwony auf Polnisch rot heißt; gemeint war also wörtlich ein „Rotwinkler“, ein Häftling aus politischen Gründen, der einen roten Winkel tragen musste. Ebenso bedeutete être au schono „auf Schonung sein“, hier ist die Erstsprache Französisch.
Eine singuläre Sprache für singuläre Verbrechen
Dass deutsche Wörter nicht einfach übersetzt, sondern in eine multilinguale Lagersprache integriert wurden, liegt aber nicht nur darin begründet, dass ja ein französischer Häftling nicht gleich einen polnischen versteht, nur weil beide kein Deutsch sprechen. Eine einseitige Übersetzung deutscher Wörter ins Polnische hätte in der internationalen Lagergemeinschaft keinen kommunikativen Mehrwert mit sich gebracht. Französischsprachige hätten Polnischsprachige schlicht nicht verstanden – und umgekehrt.
Jedoch waren die Wortbildungen der Lagersprache auch semantisch motiviert, hatten also für die Sprechenden ganz bestimmte Bedeutungen. Das schien bereits beim genannten kamsi-kamsa durch, wird aber am Beispiel blokfirersztuba (Blockführerstube) besonders deutlich: Obwohl es durchaus ein polnisches Wort für ein Wachhaus, nämlich wartownia, gibt, sprach man von der blokfirersztuba. Warum? Weil das, was in diesen Räumen der KZs geschah, eine andere, eine schlimmere Qualität hatte als in vergleichbaren Gebäuden außerhalb. Die Sprachwissenschaftlerin Renate Birkenhauer resümiert treffend: „Über das Lager konnte man nur in der Sprache der Zwangsgemeinschaft sprechen“.
Hinweis: Der Artikel basiert auf dem Aufsatz „NS-Deutsch. Vier Lesarten des Deutschen zwischen 1933 und 1945“ von Renate Birkenhauer aus dem Jahr 2012 (In: Leupold, Gabriele/Passet, Eveline (Hgg.): Im Bergwerk der Sprache. Eine Geschichte des Deutschen in Episoden. Göttingen: Wallstein, 245-268.). Die Schreibweisen der Lagersprache wurden aus diesem übernommen.
Bildquelle: pixabay.com
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