Stell dir vor du hast schlimme Schmerzen im Bein. Du weißt nicht wirklich, was das Problem ist: Vielleicht ein Bänderriss oder eine Zerrung. Dein Leid wird nach einiger Zeit nicht besser und du rufst einen Arzt an mit der Bitte um einen Termin…
„Es tut mir Leid, wir haben leider keine Termine zur Zeit. Rufen Sie nochmal in 3 Monaten an!“
Nach Monaten und etlichen Anrufen bei verschiedenen Ärzten bekommst du endlich deinen Termin. Mittlerweile sind die Schmerzen aber so schlimm geworden, dass du nicht mehr richtig laufen und arbeiten gehen kannst.
Trotzdem schaffst du es zu einem ersten Gespräch mit dem Arzt. Er befragt dich zu deinen Schmerzen, sieht, dass du wirklich leidest, muss dir aber nach ein paar Sitzungen als ihr gerade erst die Ursachen der Schmerzen erforscht habt und noch nichts zu der Heilung besprochen habt, mitteilen, dass er keinen Platz mehr für dich hat.
Deine Suche beginnt von vorne.
Unrealistisch?
Leider ist das die Realität für viele Betroffene von psychischen Problemen. Schon vor der Covid-19-Pandemie war ein schneller Therapieplatz wie ein 8-er im Lotto. Lange Wartezeiten und ernüchternde Absagen am Telefon sind der Standard.
Aber warum ist die Situation so schlecht?
Bedarfsplanung von 1999
Das Problem ist nicht, dass es zu wenige Psychotherapeuten gibt, sondern, dass nicht alle Therapeuten ihre Leistungen mit der Krankenkasse abrechnen können. Gesetzlich versicherte Personen können eine kostenlose Therapie also nur bei einem Psychotherapeuten machen, wenn dieser einen sogenannten Kassensitz hat.
Wie viele Kassensitze es in einer Region gibt, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in einer „Bedarfsplanung“. Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet über die Leistungen, die von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
1999 gab es eine Bedarfsplanung für psychotherapeutische Kassensitze, weil die Psychotherapie damals als Leistung für die Krankenkassen aufgenommen wurde. Der Bedarf wurde berechnet, indem der Ist-Zustand (Wie viele Psychotherapeuten gibt es aktuell?) zum Soll-Zustand (So viele sollte es geben!“ erklärt wurde. Diese Zahlen galten lange. Bis 2019 als es zu einer Reform kam. Seit der Bedarfsplanungsreform sollen die sogenannten Verhältniszahlen (Einwohnerzahl pro Arzt) alle zwei Jahre angepasst werden.
Welche Folgen haben zu wenige Therapieplätze?
→ Chronifizierung
Eine erfolglose Suche nach einem Therapieplatz kann zu einer Chronifizierung der Probleme führen.
→ Hoffnungslosigkeit und Resignation
Sich Einzugestehen, dass man Hilfe braucht ist für viele Patienten schwer genug. Sich immer wieder zu motivieren eine Liste von Psychotherapeuten abzutelefonieren ist eine Herausforderung. Oft stößt man auf Absagen und lange Wartelisten.
→ Schuldgefühle
Die Therapeuten würden gerne helfen, können dies aber nicht. Auch viele Betroffene äußern den Gedanken, dass sie mit ihren „leichten“ Problemen anderen Betroffenen den Platz wegnehmen. Es würde zwar sicherlich auch mit mehr Plätzen solche Gedanken entstehen, aber die Knappheit verstärkt sicher solche Gefühle, dass es einem nicht „schlimm genug“ geht. Was natürlich absoluter Unsinn ist. Sollten die Probleme einer Person nicht in die Psychotherapie gehören, dann wird ein Therapeut das sagen und alternative Hilfsangebote vorschlagen. Typische Krankheitsbilder, die therapeutisch behandelt werden, sind: Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Suchterkrankungen, Essstörungen etc.
Bei so unterschiedlichen psychischen Erkrankungen gibt es auch verschieden Behandlungsansätze:
Welche Therapieformen gibt es?
Damit der Artikel nicht zu lang wird, werde ich hier die verschiedenen Therapieformen nur kurz erläutern.
→ Verhaltenstherapie (maximal 80 Sitzungen): Legt den Fokus darauf, dass Verhalten gelernt ist und somit auch wieder verlernt werden kann. Durch einen verstärkten Fokus auf metakognitive Therapien werden auch den Gedanken und weiteren kognitiven Prozessen mehr Raum gegeben. Typisch für Zwänge oder Ängste.
→ Systemische Therapie (maximal 48 Stunden – nur für Erwachsene): Der Mensch ist Teil eines Systems (Familie, Freundeskreis, Arbeitsbeziehungen etc.). Störungen in diesen Systemen sorgen auch für Probleme bei Betroffenen. Muster in Beziehungen und Kommunikation und ihre Funktionen werden erforscht, um neue Perspektiven zu ermöglichen. Auch die Arbeit mit wichtigen Personen im Umfeld (Familie, Partner) spielt eine Rolle.
→ Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (maximal 100 Stunden): Aktuelle Probleme werden mit Bezug zur Kindheit betrachtet mit der Annahme, dass unbewusste Konflikte und Kindheitserfahrungen wichtig sind. Dieses analytische Verfahren findet in einem anderem Setting statt als die typische Psychoanalyse (s. u.). Patient und Therapeut sitzen sich gegenüber und treffen sich seltener. Außerdem ist die Rolle des Therapeuten eine aktivere.
→ Analytische Psychotherapie (maximal 300 Stunden): Diese Form der Psychotherapie wurde früher oft im Fernsehen gezeigt: Der Patient erzählt liegend von seinen Problemen. Auch hier liegt der Fokus bei Kindheits- und frühen Beziehungserfahrungen. Die therapeutische Beziehung (Übertragungsprozesse) ist wichtig und die Bereitschaft sich über eine längere Zeit intensiv mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Oft gibt es mehrere Sitzungen pro Woche.
Außerdem kann zwischen einer Einzel- und einer Gruppen-Therapie unterschieden werden. Manchen Patienten kann es helfen zu sehen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind und der Austausch in der Gruppe inspiriert.
Aber wie kommt man überhaupt an einen Therapieplatz und welche Hilfsangebote gibt es?
→ 116117: die Nummer der Terminservicestelle kann man anrufen, wenn man Hilfe braucht. Dort wird einem ein zeitnahes Erstgespräch vermittelt bzw. auf der Webseite kann man auch selber einen Termin/Therapeuten wählen.
– Achtung: ein Erstgespräch heißt nicht, dass der Therapeut einen Platz frei hat. Er kann jedoch eventuell an freie Kollegen weiterleiten.
→ Krankenkasse: Krankenkassen händigen ihren Mitgliedern eine Liste mit Therapeuten aus.
→ Internetseiten: z. B. „Therapie.de“ listet Psychotherapeuten in der Nähe auf.
→ Anrufen: Man kann sich auch selber eine Liste von Therapeuten in der Nähe, die einem passend erscheinen, erstellen.
→ Umfeld: Eventuell hat jemand aus der Umgebung einen Tipp
→ Notfall: eine Selbst-Einweisung in eine psychiatrische Klinik
Weitere psychosoziale Hilfsmöglichkeiten: die Caritas, die psychologische Beratungsstelle für Studierende, die Telefonseelsorge etc. Solche niederschwelligen Hilfsangebote können keine Therapie ersetzen, falls diese erforderlich ist.
Wenn man sich entschlossen hat, dass man therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann das Angebot jedoch schnell überfordernd sein:
Psychiater, Psychotherapeut, Heilpraktiker: Wer kann jetzt helfen?
Psychologischer oder ärztlicher Psychotherapeut: Jemand, der nach einem Studium von:
- Klinischer Psychologie und Psychotherapie (vor 2020: Psychologie)
- Medizin
- bis 2020: Fächer wie Pädagogik (bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) die Psychotherapeuten-Ausbildung / eine Weiterbildung erfolgreich absolviert hat. Die Therapeuten-Ausbildung dauert mindestens drei Jahre. Mit einer staatlichen Prüfung (= Approbation) beenden sie ihre Ausbildung.
Bei Ärzten gibt es unterschiedliche Fachärzte mit einem Bezug zur Psychotherapie / Psychiatrie / Psychosomatik:
- Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie (= Psychiater)
- Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
- Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychosomatik
- Fachärzte für Nervenheilkunde/Nervenarzt (mit Inhalten der Neurologie und Psychiatrie)
Diese Ärzte haben eine Weiterbildung gemacht, die vor allem die organische Perspektive beinhaltet und einen guten Überblick über mögliche Medikamente bietet. Außerdem gibt es für Ärzte auch Zusatz-Weiterbildungen für u. a. Psychoanalytische Verfahren oder eine Ausbildung zum fachgebundenen Psychotherapeuten.
Psychologe: Ein Psychologe hat nur ein fünfjähriges Psychologie-Studium erfolgreich abgeschlossen.
Der Heilpraktiker: Man muss man verschiedene Arten von Heilpraktikern unterscheiden. Der Heilpraktiker hat keine Approbation und darf nur heilkundliche Psychotherapie anbieten.
- Der (Voll-) Heilprakiker („großer Heilprakiker“)
- Heilpraktiker mit Fokus auf die Psychotherapie („kleiner Heilpraktiker“) eher für die Beratung (ähnlich Coachings s.u.)
- Heilkunde-Erlaubnis für Diplom-/Master-Psychologen
Nach einer Ausbildung, die man innerhalb eines Jahres abschließen kann, ist eine Prüfung beim Gesundheitsamt erforderlich. Es gibt jedoch keine standardisierten Reglungen was die Ausbildung oder die Prüfungsinhalte angeht. Rein theoretisch kann man auch die Prüfung ohne vorherige Ausbildung oder einen Vorbereitungskurs antreten. Trotzdem dürfen Heilpraktiker das Wort „Psychotherapie“ (nicht jedoch „Psychotherapeut“) zur Beschreibung ihres Angebotes verwenden. Man sollte auch bei einem Heilpraktiker auf die vorhandenen Qualifikationen schauen.
Die Begriffe „Coach“, „Lebensberater“ oder „psychologischer Berater“ sind nicht geschützt. Es gibt also keine einheitlichen Voraussetzungen, die jemand erfüllen muss, um sich so zu nennen. Dasselbe gilt für den „systemischer Berater“ und „systemischen Coach“. Jedoch hat letzterer oft eine ein- bis zweijährige Ausbildung absolviert, um lösungsorientiert arbeiten zu können. Er soll in belastenden Lebens- oder auch beruflichen Situationen den Klienten begleiten.
Will man bei seinen Problemen eine Begleitung von einem mit der Krankenkasse abrechnenden Psychotherapeuten haben, dann ist das Erstgespräch der Anfang.
Was passiert im Erstgespräch?
Bevor man das erste Mal zu einem Therapeuten geht, braucht man keine Überweisung des Hausarztes. Man muss nur seine Krankenkassen-Karte mitbringen und sollte überprüfen, ob das Gespräch von der Krankenkasse bezahlt wird (Therapeut mit Kassensitz) oder nicht (Private Praxis o. Ä.).
Jedes Erstgespräch verläuft unterschiedlich – abhängig nicht nur von Therapeut, Therapieform und den Beschwerden, sondern auch von der Bereitschaft des Patienten sich einzubringen. Keiner muss in den ersten 50 Minuten vor einem Fremden von seinen schwerwiegenden Probleme erzählen. Die erste Stunde gilt vor allem dem Kennenlernen: Was bringt den Patienten dazu eine Therapie machen zu wollen? Braucht man dafür wirklich eine Psychotherapie oder könnten andere Methoden besser helfen? Kann der Therapeut einen mit seinen Methoden/Erfahrungen unterstützen? Aber auch: Passt die Chemie und hat man das Gefühl, dem Therapeuten vertrauen zu können? Der Therapeut wird eventuell auch etwas über sich erzählen (Was bedeutet z. B. „systemische Therapie“, auf welche Bereiche ist er spezialisiert?)
Was kommt nach den ersten Gesprächen?
Nach den ersten paar Sitzungen (probatorische Sitzungen) entscheidet man gemeinsam, ob der Patient eine Therapie beginnen will. Wenn ja, brauchst man noch einen sogenannten Konsiliarbericht von einem Arzt. Dieser stellt fest, dass keine körperlichen Ursachen die Probleme verursachen und dass medizinisch nichts gegen eine Therapie spricht. Auch relevante Medikamente oder Allergien werden hier notiert. Es ist wichtig, dass der Arzt einen dafür untersucht und nicht nur den Konsiliarbericht unterschreibt. Eine Psychotherapie gegen Ängste, wenn diese z. B. durch die Schilddrüse verursacht werden, bringt nicht gerade viel …
Sind alle Unterlagen vorhanden, dann stellt der Therapeut einen Antrag bei der Krankenkasse. Wird dieser genehmigt, kann die Therapie beginnen!
Tipp: Es gibt auch das Kostenerstattungs-Verfahren. Wenn der Patient nachweisen kann, dass er trotz behandlungsbedürftiger Problematik keinen Therapieplatz bekommen hat, kann er einen Antrag auf eine Bezahlung der Behandlung bei einem Psychotherapeuten ohne Kassensitz beantragt werden. Leider werden circa 50 % dieser Anträge abgelehnt.
Psychotherapie in Zahlen:
- Fünf Wochen warten Betroffene im Schnitt auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch.
- Fünf Monate dauert es im Schnitt bis die Behandlung beginnen kann.
- 43% der Erwachsenen in Deutschland leiden mindestens einmal in ihrem Leben an einer psychischen Erkrankung.
- 200 Minuten in der Woche müssen Psychotherapeuten telefonisch erreichbar sein.
- Seit 2017 bekommen Betroffene ein zeitnahes Erstgespräch über die Terminserviecestelle: Telefonummer 116117 bzw. auf der Webseite: www.116117.de
Quellen:
https://krautreporter.de/3782-es-gibt-genug-psychotherapieplatze-warum-ist-es-so-schwer-einen-zu-finden (17.12.2022 – 21:33 Uhr)
https://www1.wdr.de/nachrichten/psychotherapie-platzsuche-tipps-100.html (17.12.2022 – 22:05 Uhr)
https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/968/ (14.09.23 – 15:47 Uhr)
https://www.kbv.de/html/bedarfsplanung.php (14.09.23 – 15:52 Uhr)
https://www.kbv.de/html/28551.php (14.09.23 – 15:56 Uhr)
https://www.tk.de/techniker/leistungen-und-mitgliedschaft/informationen-versicherte/leistungen/weitere-leistungen/faq-psychotherapie/welche-psychotherapeutischen-behandlungenarten-zahlt-tk-2005916?tkcm=ab (14.09.23 – 15:59 Uhr)
https://www.aerzteblatt.de/archiv/223842/Kostenerstattung-in-der-Psychotherapie-Ablehnungsquote-von-knapp-50-Prozent (14.09.23 um 16:11 Uhr)
https://www.therapie.de/psyche/info/fragen/wichtigste-fragen/aerztlicher-psychotherapeut/ (14.09.23 um 16:39 Uhr)
https://www.therapie.de/psyche/info/fragen/wichtigste-fragen/psychotherapie-heilprg/ (14.09.23 um 16:42 Uhr)
https://www.psychologie-muenchen.de/therapie/informationen/aerztlicher-psychotherapeut/ (14.09.23 um 17:22 Uhr)
https://www.spektrum.de/magazin/metakognitive-therapie-aengste-und-depressionen-ueberwinden/1365102 (14.09.23 um 17:56 Uhr)
https://www.klinik-friedenweiler.de/blog/tiefenpsychologische-psychotherapie-indikation-ablauf/ (14.09.23 um 18:04 Uhr)
https://depressionsliga.de/depression-was-nun/therapieformen/ (14.09.23 um 18:10 Uhr
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/psychotherapeutische-sprechstunde.html (14.09.23 um 18:36)
https://www.lpk-rlp.de/detail/heilpraktiker-und-psychotherapie-therapie-ohne-ausbildung.html (21.09.23 um 14:22 Uhr)
https://www.infranken.de/ratgeber/karriere-geld/weiterbildung/was-ist-systemisches-coaching-coaches-coach-art-5544078 (21.09.23 um 14:57 Uhr)
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